Hanna Sjöberg
    Unwegsames Gelände und installierte Erinnerung
     

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Als ich im März 1993 über den neueröffneten Grenzübergang bei Kiez an der Oder nach Alt-Küstrin kam, gab es noch keine Ausgrabungen. Keine Stadt zeigte sich dem Auge, alles war überwachsen. Hier und dort allerdings erblickte ich eine Art wilder Schrebergärten. Das Gelände war unwegsam, nur mit Schwierigkeiten konnte ich mich darin bewegen. Aber innerhalb des Gestrüpps lagen im Gras einzelne Porzellanscherben. Hatte man sie einmal entdeckt, waren sie überall - wie wenn man Morcheln und Pfifferlinge sammelt, und mit dem gleichen Sammelinstinkt wurden sie aufgenommen, gewendet, in die Plastiktüte für die Butterbrote gesteckt. Und jetzt erst sah ich, daß der Boden, in dem die Scherben lagen, nicht Erde war, sondern überwachsener Backstein. Aber die Struktur einer Stadt konnte ich nicht erkennen. Alt-Küstrin war im Spätwinter 1993 noch ein Ort, von dem man sich nicht vorstellen konnte, daß es ihn je gegeben habe. Das einzige, was dagegen sprach, waren all die Porzellanscherben im Gras. Die Faszination, die von der Widersprüchlichkeit des Ortes ausging, verband sich mir mit dem, was aus dem Bürgerkriegs-Jugoslawien zu hören war: von niedergebrannten Dörfern und bis auf den letzten Stein abgetragenen Moscheen. Eine äußerst konkrete Auslöschung dessen, was einmal war, so daß man sagen könnte, daß es nie existiert hat. Küstrin wurde für mich zu Vukovar.

Sammeln, heißt es, schenkt Trost. Dinglichkeit macht etwas scheinbar erreichbar. Das ehemalige Küstrin aber bleibt unerreichbar. Fünfzig Jahre hatten die Porzellanscherben, die Kachelreste, der rostige Topf im überwachsenen Erdreich gelegen, ehe ich sie entdeckte und ausgrub und sie sich in meiner Installation zeigen konnten. Doch stellt sich die Frage, ob es möglich ist, etwas Verschwundenes mit Hilfe von etwas Entdecktem zu zeigen.

Die Scherbe wird zum Zitat des Tellers, aus ihrem Zusammenhang gerissen und in unsere Phantasie gehoben, ruft sie das Ganze herbei, so daß sein Muster wiedererkannt werden kann: solche Tassen oder eine solche Suppenschüssel gab es damals, hatten wir damals, würde ich gern haben. Mit ihrer Stellvertreterfunktion aber steht die Scherbe auch für den Akt der Zerstörung: zerbrochenes Service, Apokalypse, verlorenen Alltag.

Anfänglich habe ich mir einige triviale Fragen gestellt: wo ist der Tisch zu all diesen Scherben, die im überwachsenen Boden stecken? Wo ist der Schrank, in dem sie einst standen? Wo ist die Frau, die sie abwusch, wo das Kind, das von ihnen aß? Und wo sind die Häuser, in denen sie lebten? Mit den Fundstücken, den Kacheln, den Scherben aus Porzellan und Glas, die ich gesammelt hatte, wollte ich einen Tisch für Küstrin decken. Je länger ich mit dem Material umging, desto mehr wurde daraus eine Inszenierung von privater Erinnerung, von Erinnerungen, die ich persönlich nicht hatte, die ich erst recherchieren und konstruieren mußte. Der gedeckte Tisch in der Mitte blieb leer. Diese Installation handelt von einer Tabula rasa.

In die Installation sind Textzitate eingebettet. Im Unterschied zu den Fotografien und Objekten, die alle aus Küstrin stammen, kommen sie von außen hinzu, verweisen auf parallele Verluste und Schicksale und die historische Realität, die der Zerstörung zugrundeliegt, und zeigen Küstrin als einen exemplarischen Ort für die Traumatisierung und Tabuisierung der Vertreibungen.

Das Zitat als ein aus seinem Zusammenhang gerissenes Stück Text wird in einen neuen Zusammenhang eingefügt; es hat das Gepräge des Authentischen, ist aber ein Überbleibsel aus der Vergangenheit. Die in sich widersprüchlichen Texte sind als eigene freistehende Kunstwerke zu betrachten, die ich ausgewählt und mir zu diesem Zweck ausgeborgt habe. So enthält auch das Fragment, die einzelne Scherbe bereits ein Bild des Ganzen, sowohl als Idee wie auch in seiner ganzen Fülle, voller Kitt und Reibungsflächen.
 
"Ein Tisch für Küstrin" ist mehrfach ausgestellt. Angepaßt an den Genius loci und die räumlichen Verhältnisse des jeweiligen Ausstellungsortes, hat die Form der Installation sich jeweils verändert. Während dieser Jahre aber hat sich auch Alt-Küstrin stark verändert. Den vergessenen, überwucherten Ort, den ich 1993 vorfand, gibt es nicht mehr, seit 1995 wird die Stadt nach und nach ausgegraben, und im letzten Jahr wurden auch einige Wohnhäuser auf den Grundrissen der alten neu errichtet. Außerhalb des Trümmergeländes finden sich eine Tankstelle, McDonalds und ein Grenzmarkt, und der inzwischen ausgebaute, riesige Grenzübergang frißt sich in die Reste der Stadt hinein.

Hanna Sjöberg 

Veröffentlicht in: Von Vestungen. Ausstellungskatalog Zitadelle Spandau 2001




 
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