Hanna Sjöberg
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„Man kann … von einem Gedächtnis aller organischen Materie, ja der Materie überhaupt, sprechen, in dem Sinne, daß gewisse Einwirkungen mehr oder weniger dauernde Spuren an ihr hinterlassen. Der Stein selbst behält die Spur des Hammers, der ihn getroffen hat.“
Karl Spamer, Physiologie der Seele, 1877


Die hier gezeigten 72 Scherben habe ich in den vergangenen zwölf Jahren in dem Gelände gesammelt, wo einst die Altstadt von  Küstrin lag. Als ich im März 1993 über die Oder erstmals nach Küstrin kam, war die Struktur einer Stadt nicht zu erkennen: alles war überwachsen, das Terrain unwegsam, nur mit Schwierigkeiten konnte ich mich darin bewegen. Aber innerhalb des Gestrüpps, wo der Erdboden gleichsam umgewühlt, aufgegraben und überwuchert war, lagen im Gras Porzellanscherben, mehr und mehr. Und ich entdeckte, dass der Boden, in dem die Scherben lagen, nicht Erde war, sondern überwachsener Backstein. Die Fundstücke, die der Boden freigab, erinnerten an das ausgelöschte alltägliche Leben, an die Bewohner, die gestorben oder geflohen waren.
Wie in einem Brennspiegel bündeln die Scherben das dramatische Geschehen, gleichermaßen seine Auslöschung und Freisetzung, so wie insgesamt das Oderland zu einem Brennspiegel des Kriegsendes geworden ist.

Hanna Sjöberg


„Die Sprache hat es unmissverständlich bedeutet, dass das Gedächtnis nicht ein Instrument zur Erkundung der Vergangenheit ist sondern deren Schauplatz. Es ist das Medium des Erlebten wie das Erdreich das Medium ist, in dem die toten Städte verschüttet liegen. Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muss sich verhalten wie ein Mann, der gräbt … Denn Sachverhalte sind nur Lagerungen, Schichten, die erst der sorgsamsten Durchforschung das ausliefern, was die wahren Werte, die im Erdinnern stecken, ausmacht: die Bilder, die aus allen früheren Zusammenhängen losgebrochen als Kostbarkeiten in den nüchternen Gemächern unserer späteren Einsicht – wie Trümmer oder Torsi in der Galerie des Sammlers – stehen.“
Walter Benjamin, Der Spatentisch ins dunkle Erdreich 1932



 
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